Vor mir liegt ein Würfel. Er ist ein Objekt aus meiner Kindheit und zugleich eines der ?ltesten Spielzeuge überhaupt. Was fasziniert an diesem so einfachen Ding mit seinen sechs gleichen Seiten, die sich nur durch ihre Markierungen zu unterscheiden scheinen? Der Würfel verschr?nkt auf sonderbare Weise Vergangenheit und Zukunft: So viel wir auch über seine Vergangenheit wissen, die Zukunft ist uns unbekannt. Denn die Wahrscheinlichkeit, etwa eine Sechs zu würfeln, bleibt immer gleich, egal wie oft diese Zahl schon gewürfelt wurde – sehr zum Verdruss aller Spielenden, die nach einer langen Pechstr?hne endlich auf Erfolg hoffen.
Ich sprach mit einer Sozialwissenschaftlerin über den Würfel, und sie offenbarte mir eine v?llig andere Sichtweise. Natürlich wisse sie sehr viel über die Zukunft des Würfels, oder besser gesagt: der Würfel. Denn als Statistikerin besch?ftigt sie, im Gegensatz zum Kulturwissenschaftler, nicht das einzelne Ereignis, sondern eine Vielzahl von Ereignissen. Womit die Zukunft sehr exakt vorhersehbar wird, wovon bekanntlich die Versicherungsbranche extrem profitiert, nicht immer aber die B?rsenmakler. Es hat den Anschein, dass Zahlen auf eine sehr komplexe Weise zwischen Dingen, Beobachtungen oder Messungen und einer Struktur vermitteln, die wir nur allzu gerne genauer kennen würden. Jedenfalls ist es die ?berzeugung vieler Wissenschaften, dass der Wirklichkeit eine Ordnung und Gesetzm??igkeit zugrunde liegt und dass wir diese zunehmend besser verstehen k?nnen.
Wie eine solche Ordnung allerdings aussehen k?nnte, daran scheiden sich die Geister und die Disziplinen der Wissenschaft. Ist es eine universelle Ordnung, die auch dann
Gültigkeit besitzt, wenn wir uns eine Welt ohne Menschen vorstellen? Oder gibt es viele, miteinander konkurrierende und kulturell gepr?gte Ordnungen? Lassen sich die Ordnungen in der Sprache der Mathematik erfassen, oder helfen nur radikal individuelle Beschreibungen?
Fragen wie diese führen mich zum Würfel zurück, denn er ist nicht nur ein konkretes kulturelles Artefakt, er ist zugleich auch ein Modell. Als Platonischer K?rper betrachtet, ist ?Würfel“ alles, was sechs identische, quadratische Seiten besitzt, die exakt im rechten Winkel aufeinandergesetzt sind. Woraus sich zw?lf Kanten und acht Ecken ergeben. Wie abstrakt dieser Würfel für Platon gewesen ist, zeigt sich dann, wenn er die Seiten zu Ecken und die Ecken zu Fl?chen macht, sodass ein Oktaeder entsteht.
Der Würfel ist Modell durch seine Geometrie, vollkommen unabh?ngig von seiner Gestalt. Womit er zugleich zu einem Modell der Physik wird. Ein Physiker, mit dem ich spreche, zeigt mit dem Finger auf eine Ecke des Würfels: ?Dort hat alles angefangen.“ Eine Theorie, die auf dieser Ecke des Würfels sitzt, kennt keine Gravitation, kein Plancksches Wirkungsquantum und keine Lichtgeschwindigkeit. Auf dieser Ecke sitzt die Welt von Isaac Newton – eine rein mechanische Welt, so stark idealisiert, dass sie im Grunde nur auf einem Billardtisch denkbar ist. Im Verlauf der Geschichte, erkl?rt mir der Physiker, wurden die anderen Ecken des Würfels erkundet: Zuerst kam, noch mit Newton, die Gravitation hinzu, dann führte Einstein mit seiner Speziellen Relativit?tstheorie die Lichtgeschwindigkeit ein, und schlie?lich begründete Max Planck mit seinem Wirkungsquantum die Quantentheorie. Das sind, so der Physiker weiter, die drei Hauptachsen des Würfels, die drei fundamentalen Konstanten der Physik, aus deren Kombination sich die anderen Ecken und damit acht unterschiedliche Theorien zwangsl?ufig ergeben.
Gedankenverloren murmle ich vor mich hin: Hei?t das etwa, ich müsste den Würfel nur drehen, bis die Nullecke vom Anfang hinten liegt, und schon h?tte ich eine Theorie von Allem vor Augen, eine, die alles umfasst? Im Prinzip ja, sagt der Physiker, nur dass sich daran bisher alle die Z?hne ausgebissen haben, weil sich die Allgemeine Relativit?tstheorie und die Quantenmechanik einfach nicht zusammenbringen lassen. Ich gerate ins Trudeln. Da existiert also ein Würfelmodell der physikalischen Theorien. Das Modell ist vollst?ndig und sagt voraus, dass es eine Theorie von Allem geben muss, wenn es nur gelingt, die letzte Ecke des Würfels auszuformulieren. Indem ich den Würfel drehe, durchlaufe ich die Wissenschaftsgeschichte der Physik – und lande doch in einer Sackgasse.
Das Modell des dreidimensionalen Würfels scheint seine eigene Zukunft vorherzusagen. Wie buchst?blich sch?n w?re es, wenn sich das gesamte Wissen der Physik in eine so einfache und symmetrische Ordnung bringen lie?e? Genauso gut k?nnte es allerdings sein, dass uns der Würfel auf den Holzweg führt: Wir jagen blind der sch?nen L?sung hinterher, verrennen uns und übersehen schlicht, dass es auch andere M?glichkeiten gibt. Was ist der Würfel nun: ein Erkenntnismodell oder ein Erkenntnishindernis?
Meine Fragen verwirren den Physiker. Ich lege den Würfel zur Seite. Er hat uns, die Sozialwissenschaftlerin, den Physiker und mich Kulturwissenschaftler, zusammengebracht. Er hat uns aber auch gezeigt, dass er selbst auf eine schwer fassbare Art quer zu unseren Disziplinen liegt. Am Schluss blieb der Würfel schlauer als wir. Und das hei?t: Es gibt keine Hierarchie der Methoden. Vielleicht ist gerade dies der Kern der Idee einer Universit?t.
