Frau Bojad?ijev, woraus besteht das Archiv der Flucht?
Den wesentlichen Kern des Archivs bilden 42 dokumentarische Filminterviews. Wir haben mit Menschen gesprochen, die in den vergangenen acht Jahrzehnten in die Bundesrepublik oder die DDR eingewandert sind. Sie erz?hlen von Heimat und Exil. Sie erl?utern, was Einwanderung ihnen bedeutet, reflektieren Zugeh?rigkeit und Neuanfang. Damit bezeugen diese Menschen eine vielschichtige, aufregende Erz?hlung der Geschichte Deutschlands, aber auch der Welt. Au?erdem haben wir diese Interviews erg?nzt um Materialien, die langfristig einen wissenschaftlichen Zugang verschaffen, die schulische und politische Bildung damit erm?glichen.
Was gab den Ansto?, solch ein Archiv anzulegen?
Die Migrationsbewegungen durch Europa im Jahr 2015 und der gesellschaftliche wie politische Umgang damit waren entscheidende Ausl?ser. Das Archiv entstand auf Initiative der Publizistin Carolin Emcke. Ich habe sofort zugesagt mitzumachen. Unter Mitwirkung weiterer Expert:innen, unter anderem Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl von der Humboldt-Universit?t zu Berlin und Stefanie Schüler-Springorum von der Technischen Universit?t Berlin, haben wir über eineinhalb Jahre hinweg zun?chst ein Konzept entwickelt, Interviewpartner:innen gesucht und dann die Gespr?che vor der Kamera geführt.
Welches Konzept liegt dem Archiv zugrunde, nach welchen Kriterien haben Sie die Interviewpartner:innen ausgew?hlt?
Aus pragmatischen Gründen hielten wir die Wege kurz. Alle Interviewpartner:innen leben derzeit in Berlin und Brandenburg. Vor allem aber war uns von Beginn an wichtig, Fluchterfahrungen nicht zu hierarchisieren. Wir haben darauf geachtet, Erinnerungen von Menschen aller Generationen einzufangen, die hierher geflohen sind. Das reicht von der Flucht aus Schlesien im Jahr 1945 bis zur Flucht über Libyen im Jahr 2016. Die Protagonist:innen kommen aus insgesamt 28 Herkunftsl?ndern, aus Südamerika, Afrika, Ost- und Südosteuropa, aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Südost- und Ostasien. Ihre Geschichten umfassen die unterschiedlichsten sozialen oder kulturellen Hintergründe, Religionen und Sexualit?ten. Frauen und M?nner sind fast gleicherma?en vertreten. Bei den Interviews gehen wir in diese Biografien hinein, die sehr unterschiedlich sind – und meist verknüpft mit den gesellschaftlichen Gründen für die Flucht: politische, religi?se, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder weil sie Frauen sind.
Welche Erkenntnisse kann man daraus ziehen?
Einwanderung, die Aufnahme und Integration neuer Bürger, verbinden die Verwerfungen der globalen Geschichte mit Deutschland. Man erkennt an diesen unterschiedlichen Geschichten zum Beispiel auch, wie Flucht und Migration sich konjunkturell ver?ndern. Politische Verfolgte etwa kamen in den Siebzigerjahren nach dem Putsch in Chile mit dem Flugzeug nach Deutschland. Heute sind viele Wege versperrt, die Grenzen dichter. Das macht Flucht in vielen F?llen zu einem langen Prozess, der mit grauenvollen Erfahrungen verbunden sein kann. Historisch geben wir Migration unterschiedliche Namen, Gastarbeit, Flucht etc. Ob man hier aber schlie?lich als sogenannter Gastarbeiter aufgenommen wurde, als politischer oder Kriegsflüchtling, war und ist eine Frage hiesiger Definitionen, die sich ebenfalls ver?ndern. Die Kategorien sind por?s. Das zeigt das Archiv.
Was bedeutet das für Heute und die Zukunft?
Nach den schrecklichen medialen Diskussionen ab 2016 ist es inzwischen um 金贝棋牌 wie Flucht und Einwanderung zwar ruhiger geworden. Wirklich gestellt hat man sich diesen Herausforderungen aber nicht, weder gesellschaftlich noch politisch. Migration bleibt dennoch ein global akutes Ph?nomen und wird uns künftig weiterhin betreffen. Die Praxis der Flucht ist nicht unhintergehbar, das zeigt das Archiv. Wir müssen uns also fragen, welche Formen des Erinnerns und Bezeugens es in unseren heutigen Einwanderungsgesellschaften braucht: Welche strukturellen ?hnlichkeiten teilen die unterschiedlichen Erz?hlungen von Flucht und Ankommen? Die Erinnerungen der nach Deutschland geflüchteten und migrierten Menschen k?nnen auch über das Selbstbild unserer Gesellschaft einiges offenbaren.
Interview: Lars Klaa?en
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Das Online-Archiv ist ab dem 30. September 2021 zug?nglich.
Die Er?ffnung des Archivs wird vom 30. September bis zum 3. Oktober 2021 im Haus der Kulturen der Welt mit vier 金贝棋牌tagen begangen, u.a. einer Installation, Workshops und Diskussionsrunden. Der Eintritt ist frei, Einlasstickets sind erh?ltlich über die Webseite.