Intellektuelle und Unterschichtengewalt in staatsfernen Gesellschaften - Russland/Sowjetunion, Südafrika und Mexiko 1870-1940
Auf einen Blick
Projektbeschreibung
Das Projekt fragt nach dem Beitrag von Intellektuellen, den formal Gebildeten wie den Autodidakten aus b?uerlichen, proletarischen oder ethnischen Milieus zur Entgrenzung der kollektiven physischen Gewalttat in staatsfernen Gesellschaften. Die Untersuchung bezieht sich auf ausgew?hlte Regionen in Russland/Sowjetunion, Südafrika und Mexiko, der Untersuchungszeitraum reicht regional differenziert von etwa 1870 bis 1940. Ausgangspunkt des Projekts ist die Beobachtung, dass Intellektuelle seit dem sp?ten 19. Jh. versuchten, kollektive Gewalttaten sog. Unterschichten, deren Gewaltpraxis in b?uerlichen und ethnischen Gemeinschaften oder subkulturellen Milieus wurzelte, zu schüren und für ihre Zwecke zu nutzen. Diese Unterschichten griffen das Angebot von Intellektuellen, Gewalt unter der Obhut neuer Ideen auszuüben, auf, stellten es aber in den Dienst eigener Zwecke. Wir betrachten drei ausgew?hlte Regionen in L?ndern, deren Ausgeschlossenheit von dem, was als Kernzone westlicher Gesellschaftsentwicklung umschrieben werden kann, den r?umlichen Zuschnitt des Vergleichs bestimmt. Die Lebensform und politische Organisation dieser ausgew?hlten Regionen nennen wir staatsferne Gesellschaft. Hier setzte sich das staatliche Monopol an legitimer Machtausübung nicht durch, weil der Staat nicht oder nur zeitweilig in Erscheinung trat und weil sich die Herrschaftsunterworfenen nicht auf den dominanten Herrschaftsglauben zurichten lie?en. Unter solchen Umst?nden kam der Gewalttat als kultureller Ressource, als Instrument politischer Macht, gesellschaftlicher Integration und Bindung eine au?erordentliche Bedeutung zu. Die Wirkungsmacht dieser Gewalt, so unsere Hypothese, gewann besonders dort an Exzessivit?t, wo die Gewaltphantasien von Intellektuellen und Unterschichten zueinander fanden. Uns interessiert, warum Intellektuelle von der Gewalttat eine Befriedigung ihres politischen Begehrens erwarteten, in welchen historischen Konstellationen sie sich für das, was wir in Ermangelung pr?ziserer Begriffe als Unterschichtengewalt bezeichnen, zu interessieren begannen, welche Strategien sie entwickelten, um Gewalt zu schüren, und welche neuen Formen der Gewalt aus der Begegnung von Intellektuellen und Unterschichten erwuchsen. Schlie?lich: welche wechselseitigen Missverst?ndnisse über die Bedeutung der Gewalt ergaben sich aus dem 金贝棋牌 zwischen verschiedenen Gewaltt?tern, Vordenkern, Anführern und Ausführenden. Wir fragen nicht nach Entwicklungen, nach Ursachen und Zivilisierung von Gewalt, die sich gew?hnlich aus strukturgeschichtlichen Analysen herschreiben. Wir fühlen uns vielmehr einer kulturanthropologisch inspirierten Geschichtsschreibung verpflichtet, die nach den Bedeutungen und Definitionen der Gewalttat fragt. Mit diesem Vergleich betreten wir Neuland. Bislang wurden Russland und die Sowjetunion, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, mit den L?ndern des westlichen Europa, nicht mit Afrika oder Lateinamerika verglichen. Bisherige Vergleiche beschr?nkten sich auf die Zentren, fragten nach Modernisierungen und deckten Entwicklungsdefizite auf. Dadurch nahmen sie in ihrer konzeptionellen Ausrichtung die Antworten auf die Fragen vielfach bereits vorweg. Wir verschieben die Vergleichsachse, um andere als die bereits bekannten Zusammenh?nge zum Vorschein zu bringen und m?chten auf diesem Weg zu einer differenzierten Beurteilung jener intellektuellen Gewaltphantasien beitragen, die nicht aus jenem Europa kamen, das westliche Zivilisation genannt wird, und die, wenngleich in anderen Varianten, von nicht unerheblicher Aktualit?t sind.