Wilhelm von Humboldt

Wer war Wilhelm von Humboldt und welches historische Erbe hat er hinterlassen? Ein Portrait.

Politiker, Bildungsreformer, Sprachforscher

Potsdam im Sommer 1767. Friedrich II., K?nig in Preu?en und Kurfürst von Brandenburg, gestaltet die Stadt von einem Garnisonsstandort in eine Residenz um: Das Stadtschloss ist bereits umgebaut, der Alte Markt in eine italienische Piazza verwandelt, Sanssouci steht, jetzt folgt das Neue Palais, und auch unter der Adresse Neuer Markt 1 gibt es Neuerungen. Erst 1765 hat der K?nig seinen Neffen und Kronprinzen Friedrich Wilhelm II. und dessen Frau in das Geb?ude im typisch friderizianischen Barockstil einziehen lassen – in jenem Sommer ist es ?eine halbe Baustelle“, wei? Thomas Wernicke, Leiter im Bereich Ausstellungen und Projektplanung der Brandenburgischen Gesellschaft für Kultur und Geschichte. Zwei Stockwerke, ein Mezzanin, alles ?relativ herrschaftlich eingerichtet, aber insgesamt bescheiden“, so Wernicke bei seiner Führung durch die R?ume, von denen heute nur noch wenig Originales erhalten ist, am ehesten die steil gewundene Eichentreppe und der erste Stock.

Ich glaube, mit Recht behaupten zu k?nnen, dass das Unterrichtswesen im hiesigen Staat durch mich in einen neuen Schwung gekommen ist und dass, obgleich ich nur ein Jahr mein Amt verwaltet habe, doch viele Spuren meiner Verwaltung zurückbleiben werden. Etwas, was mir noch eigentümlicher als alles andere pers?nlich angeh?rt, ist die Errichtung einer neuen Universit?t hier in Berlin.

Wilhelm von Humboldt

Gründer der Alma mater berolinensis 1810
Wilhelm von Humboldt als Schwarz-Wei?-Zeichnung im Portrait

Wilhelm von Humboldt

Gründer der Alma mater berolinensis 1810

Distanziertes Verh?ltnis zu den Eltern

In diese Zeit und an diesen Ort – und laut Historiker Wernicke ?h?chstwahrscheinlich“ in diesem Haus – wird am 22. Juni 1767 Wilhelm von Humboldt geboren. Denn sein Vater Alexander Georg war nach dem verletzungsbedingten Ausscheiden aus dem Milit?r ab 1765 als Kammerherr für die pers?nlichen Angelegenheiten von Friedrich Wilhelm II. zust?ndig – ?ein hohes Hofamt, das nur dem Adel zustand. Alexander Georg war die zentrale Vertrauensperson“, erkl?rt Wernicke.

Wilhelms Mutter, die verwitwete Marie-Elisabeth von Holwede, geborene Colomb, hatte er im Jahr zuvor geheiratet. ?ber den Alltag in der jungen Familie ist wenig überliefert. Welche Traditionen und Rituale gab es? Inwiefern wirkten sich das Milit?r v?terlicherseits, die südfranz?sischen, hugenottischen Wurzeln mütterlicherseits aus? Lebte Wilhelms Halbbruder Heinrich Friedrich Ludwig Ferdinand von Holwede ebenfalls hier? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Was man jedoch wei?: Die Mutter galt als streng, spr?de und kr?nklich, der Vater als lebensbejahend und heiter. ?Es war ein distanziertes Verh?ltnis zu den Eltern, auch weil Alexander Georg früh starb“, fasst Wernicke zusammen. Und: Wenn man so will, hat der Vater den Titel – sein Vater wiederum war 1738 in den Adelsstand erhoben worden –, die durch Erbschaften verm?gende Mutter das Geld mit in die Ehe gebracht.

Eigentliche Kindheit spielt sich in Tegel ab

Schon 1769 enden Wilhelms Kleinkindjahre in Potsdam. Die Ehe des Kronprinzen wird geschieden, der Kammerherr verliert seine Anstellung und zieht mit seiner Familie auf das Gut in Tegel. Im Winter wohnt man in der J?gerstra?e 22 in Berlin, wo sich heute die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften befindet. Wie Stefan Fr?hling und Andreas Reu? in ihrem Band ?Die Humboldts. Lebenslinien einer gelehrten Familie“ schreiben, handelt es sich beim Gut um ein ursprünglich kurfürstliches Jagdschloss aus dem 16. Jahrhundert, die Stadtwohnung liegt eine dreistündige Kutschfahrt davon entfernt. Das Potsdamer Geburtshaus wird, nachdem Friedrich Wilhelm II. 1786 K?nig wird und ins Stadtschloss umzieht, Sitz der K?niglichen Ingenieurs-Akademie, sp?ter unter anderem des k?niglichen Kabinetts, daher auch der heutige Name Kabinetthaus.

Anno 2017 befinden sich am Neuen Markt 1 die Büros der Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH mit rund 40 Mitarbeitern – und eine Gedenktafel links vom Eingang. Die eigentliche Kindheit und Jugend Wilhelm von Humboldts spielen sich in Tegel ab. 1769 kommt sein Bruder Alexander zur Welt, die beiden werden ein freundschaftliches, aber kein enges Verh?ltnis haben, schreiben Fr?hling und Reu?. Vor allem werden sie sich auf geradezu komplement?re Weise erg?nzen: Wilhelm wird der Bildungsreformer, Sprachforscher, Literatur- und Kulturwissenschaftler und Diplomat, Alexander der Naturforscher und Geograf.

Wilhelm, der ?jugendliche Geistesaristokrat“

Wie Jan-Hendrik Olbertz, Professor für Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universit?t, ausführt, waren die Brüder ?symbiotisch, ein Gespann, das man sich einzeln fast nicht denken kann, obwohl sie keine Zwillinge waren“. Alexander habe Wilhelm immer wieder ?geerdet“ und Wilhelm Alexanders Blick für Relevanz und philosophische Tiefe geweitet – was er bei der Auswertung seiner weltweiten Expeditionen gut gebrauchen konnte. Doch zun?chst erwerben die Humboldts ihr Wissen bei zahlreichen, renommierten Hauslehrern wie Joachim Heinrich Campe oder Gottlob Johann Christian Kunth, der den Privatunterricht in F?chern wie Naturrecht, National?konomie, Statistik und natürlich den Fremdsprachen ab 1777 koordiniert. Auch weil Wilhelm mit 13 flie?end Latein, Franz?sisch und Griechisch spricht, nennt ihn sein Biograf Otto Harnack einen ?jugendlichen Geistesaristokraten“. ?Die Kenner ihres Faches“, resümieren Fr?hling und Reu?, ?weihen die Brüder Humboldt zugleich in die Str?mungen der Zeit ein.“

Unkonventionelle Ehe zwischen Wilhelm und Caroline

Die in Berlin vorherrschende Str?mung ist die Aufkl?rung, vorangetrieben wird sie in literarischen Salons und sogenannten Tugendbünden, in welchen Jüd*innen und Frauen im Gegensatz zur gesellschaftlichen Realit?t eine wichtige und vor allem gleichberechtigte Rolle spielen. Hier verkehren die Brüder ab 1785, hier lernt Wilhelm 1788 Caroline von Dacher?den kennen, die er 1791 heiratet. Die beiden führen eine nicht nur für damalige Verh?ltnisse ungew?hnliche Ehe: harmonisch, mit beiderseitigen Freiheiten, mehrmals getrennt, nicht zuletzt als Fernbeziehung aufgrund seiner beruflichen Stationen.

Welche Pers?nlichkeiten trafen in dieser Konstellation aufeinander? ?Zwei sehr selbstbewusste, die sich auf einem intellektuellen Level begegneten“, erl?utert Prof. Olbertz. ?Ihr Lebenskonzept sollte mehr beinhalten als kuschelige Zweisamkeit – als aufgekl?rten Geistern h?tte das auch gar nicht zu ihnen gepasst.“ Caroline und Wilhelm werden acht Kinder haben, von denen drei früh sterben. Zu dieser Zeit studiert Wilhelm nach einem entt?uschenden Semester an der Brandenburgischen Universit?t Frankfurt – noch dienen die preu?ischen 金贝棋牌n haupts?chlich zur Ausbildung von Staats- und Kirchendienern – nun Philosophie, Geschichte und Alte Sprachen an der Georg-August-Universit?t G?ttingen.

Freundschaft mit Goethe und Schiller

Er ist weltoffen, neugierig, wissensdurstig, flei?ig, so Fr?hling und Reu?. Bei Harnack ist vom ?Interesse eines ernstlich nach Bildung eigener Weltanschauung strebenden jungen Mannes“ die Rede. Reisen führen ihn nach Paris, Spanien und Weimar, wo er sich mit Goethe und besonders Schiller anfreundet. Als Richter und Diplomat tritt er in den Staatsdienst ein, seine erste berufliche Station wird im Frühjahr 1803 die des preu?ischen Gesandten in Rom, das er aufgrund seiner Begeisterung für die Antike besonders aufmerksam wahrnimmt. Sp?ter wird er in K?nigsberg, London und Wien wirken und so zu einem modernen Europ?er werden, bevor es Europa im heutigen politischen Sinn gibt, denn, so Olbertz, ?in einer nationalen Begrenzung hat er nie gedacht“.

Zurück nach Berlin beordert, leitet Wilhelm von Humboldt ab 1809 als Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Innenministerium eine dringend notwendige, rasche und umsichtige Reform des preu?ischen Bildungswesens ein; das humanistische Gymnasium, einheitliche Schulcurricula und Abiturprüfungen sowie die Gründung der Berliner Universit?t gehen ausgerechnet auf ihn, der nie eine ?ffentliche Schule besucht und nie als Lehrer gearbeitet hat, zurück.

Laut Jan-Hendrik Olbertz sei das kein Widerspruch. ?Humboldt hat seine eigene klassisch bildungsbürgerliche Biografie institutionell reproduziert, das ist vielmehr eine interessante Folgerichtigkeit.“ Vor allem stecke hinter seiner Reform die Idee einer allgemeinen und charakterlichen Selbstbildung, denn Bildung sei ja immer Selbstbildung, ?genau genommen kann man niemanden bilden, man kann nur die Voraussetzungen dafür schaffen, dass er oder sie es selber tut“, so der Erziehungswissenschaftler.

Werkausgabe umfasst 17 B?nde

Seit den 1780er Jahren hat Humboldt Dutzende Werke verfasst, etwa zu Politik, Geschichte, Philosophie und ?sthetik oder ?bersetzungen aus dem Griechischen. Die Werkausgabe umfasst 17 B?nde, dazu kommen Briefwechsel mit Alexander oder auch Caroline, allein letzterer umfasst sieben B?nde, so dass sich die Frage stellt, welche man gelesen haben sollte. Olbertz überlegt. ?Das kommt darauf an, wofür man sich interessiert.“ Ihm am Herzen liegen die Gründungsdokumente der HU, vor allem Humboldts Schriften über die h?heren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin.

Eine Sonderstellung nehmen die sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Texte ein, denn beide Brüder haben erkannt, ?dass Sprache und Denken untrennbar miteinander verbunden sind“, sagt der Professor. ?Aus der Komponiertheit des Lateinischen etwa kann man diszipliniertes und strukturiertes Denken ableiten.“ Und das Verst?ndnis fremder Kulturen basiere auch darauf, sich zuerst mit deren Sprache auseinanderzusetzen. Von dieser These ausgehend, erlernt Wilhelm weitere Sprachen wie Baskisch, Ungarisch oder Litauisch, linguistisch setzt er sich mit dem Hawaiianischen, Birmanischen oder Japanischen auseinander. Diese Arbeiten bestimmen die letzten Lebensjahre des Gelehrten, die er ab 1820 auf dem Tegeler Gut, das er von Karl Friedrich Schinkel zu einem kleinen Schloss ausbauen l?sst, verbringt.

?Humboldt eine Metapher, ein Prinzip und eine Denkhaltung“

Schwer getroffen vom Tod seiner Frau 1829, altert er schnell, sein K?rper zeigt Parkinson- Symptome. Am 8. April 1835 stirbt Wilhelm im Alter von 67 in Tegel, wie Fr?hling und Reuss berichten im Beisein seines Bruders. Was mit Bezug auf die Universit?t bleibt, ist vor allem ein Mythos. ?Es ist erstaunlich“, konstatiert Olbertz, ?dass sich die hehren Ideale der Einheit von Lehre und Forschung oder der Bildung durch Wissenschaft in dieser Wortwahl in seinen Schriften überhaupt nicht finden lassen – aber man kann sie ableiten, die Texte geben sie gedanklich her.“ So sei die Humboldtsche Universit?tsidee, wie wir sie heute verstehen, zum gr??ten Teil der Rezeptionsgeschichte entlehnt – ?und insofern eine Erfindung, wenn auch mit hoher Faktizit?t in der Wirkung“.

Die historische Person und ihr Werk werden also bewusst überh?ht. Warum schreibt man dieses Narrativ fort? Olbertz: ?Weil Humboldt wie ein Inkubator für die fortw?hrende Entwicklung von Ideen ist, und das ist ausgesprochen produktiv.“ Er sei eine Metapher, ein Prinzip, eine Denkhaltung, und dass diese Universit?t die Namen der Brüder tragen dürfe, ein ?Riesenglück“.

// Text: Michael Thiele