Herausforderung Regionalwissenschaften: das Beispiel Lateinamerika
Beitrag der Wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Lateinamerika-Institut Karina Kriegesmann, Freie Universit?t Berlin
Die gegenw?rtig intensiv geführten Debatten um die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit und eine?verantwortungsvolle internationale Zusammenarbeit?sind nicht neu. Sie weisen insbesondere an der Freien Universit?t Berlin, die sich seit ihrer Gründung 1948 dem unabh?ngigen Lehren und Forschen sowie dem freien akademischen Austausch verpflichtet fühlt, eine komplexe Geschichte auf. Den unverzichtbaren und vielfach herausgeforderten Regionalwissenschaften kommt dabei seit jeher eine zentrale Rolle zu.
Die Bedeutung der Area Studies l?sst sich in der Mitte der zweiten H?lfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Lateinamerikastudien aufzeigen. Enge akademische und pers?nliche Verbindungen – oftmals durch Erfahrungen im Exil gepr?gt – sowie politisch unterstützte Kooperationen zwischen Wissenschaftler*innen aus Lateinamerika und West-Berlin trugen seit den 1960er-Jahren wesentlich zu ihrer Institutionalisierung bei. Gleichzeitig bildete sich das Interesse einer zunehmend mobilisierten Studierendenschaft an den L?ndern der damals sogenannten ?Dritten Welt“ in einer intensiven Auseinandersetzung mit radikalen Ans?tzen und dem kritischen Hinterfragen bestehender Deutungsmuster ab. Diese Dynamiken führten an der Freien Universit?t zu teils heftigen Kontroversen, die immer wieder Abw?gungen und Debatten darüber erforderlich machten, was verhandelbar war und was nicht, wo es Gegenwehr und Proteste gab, was in welcher Situation sagbar war und was eher nicht – ein Balanceakt um das Finden, Verteidigen und Ausbalancieren einer verantwortungsbewussten Linie in aufgeregten Zeiten, an dem verschiedene universit?re Gruppen, politische Entscheidungstr?ger*innen, internationale Partnerinstitutionen und Medien beteiligt waren.
Angesichts der Diktaturen, Gewalt und sozialen Ungleichheiten etwa in Argentinien, Brasilien und Chile nahm das ?ffentliche und akademische Interesse an Lateinamerika in den 1970er- und 1980er-Jahren deutlich zu. Im Universit?tsarchiv befinden sich verschiedene Quellen, die die vielf?ltigen Formen kritischer Selbstreflexion über Werte und Positionierungen in einem politisch wie gesellschaftlich aufgeladenen Diskursraum sowohl auf West-Berliner als auch auf globaler Ebene dokumentieren.
Innerhalb des Lehrbetriebs kam es beispielsweise zu Auseinandersetzungen über bestimmte Formulierungen im Vorlesungsverzeichnis: W?hrend manche eine Beschreibung der argentinischen Gewerkschaftsbürokratie mithilfe – ihrer Einsch?tzung nach – sachlich gerechtfertigter Adjektive befürworteten, sahen andere darin ideologische Kommentare.
Eine zentrale Frage war zudem, ob – und wenn ja, in welcher Weise – sich Hochschulleitungen oder Gremien, faktisch ohne ein politisches Mandat, ?ffentlich zur Situation in Südamerika ?u?ern konnten, sollten oder durften. Besonders nach dem Milit?rputsch in Chile 1973 war das Thema Menschenrechtsverletzungen pr?sent. Viele?Universit?tsangeh?rige?zeigten ihre Solidarit?t mit geflüchteten Studierenden und Wissenschaftler*innen.
Die internationale Zusammenarbeit war – und ist – in ihrer praktischen Umsetzung oftmals eine Herausforderung. Rückblickend stellten Forscher*innen in einem Abschlussbericht etwa für sich fest, sich im Rahmen eines Projekts nicht ausreichend für bedrohte Kolleg*innen in Chile engagiert zu haben. Mitglieder einer Projektgruppe hegten die begründete Annahme, dass sie aufgrund ihrer sicherheitspolitisch als verd?chtig eingestuften Forschungsinteressen in Brasilien nicht uneingeschr?nkt wissenschaftlich hatten arbeiten k?nnen. Diese Erfahrungen führten zu einer wichtigen Erkenntnis: Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut – und keineswegs selbstverst?ndlich.
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Aktuelles Forschungsprojekt: Wissenschaftsfreiheit unter Druck - Die Westberliner Lateinamerikastudien im Spannungsfeld des Kalten Krieges (1960er- bis 1980er-Jahre)