?Auf dem Weg zur Normalit?t? LGBTQ+-Familien und ihr Kampf um Anerkennung“
In Ihrem Buch zeigen Sie, wie LGBTQ+-Familien – also lesbian, gay, bisexual, trans* und queere Familien – trotz rechtlicher Fortschritte immer noch mit Ungleichheiten und Diskriminierungen konfrontiert sind. Wo erleben die 19 von Ihnen befragten Familien im Alltag die gr??ten Hürden?
Julia Teschlade: Viele Familien antworteten auf unsere Frage nach Diskriminierung zun?chst, dass dies im Alltag keine gro?e Rolle spiele. Doch im Erz?hlen zeigten sich zahlreiche Herausforderungen. Das beginnt schon bei der Familiengründung: Kinderwünsche müssen meist sehr sorgf?ltig geplant werden und sind oft mit rechtlichen und praktischen Hürden verbunden. Nach der Geburt setzen sich diese fort – etwa, weil das Recht bislang nur zwei Eltern vorsieht. Für Mehrelternfamilien, also Familien mit mehr als zwei Eltern, birgt dies gro?e Unsicherheiten, etwa im Krankheits- oder Todesfall. Bei lesbischen Paaren wird zudem nur die geb?rende Mutter automatisch anerkannt, die Partnerin muss das Kind erst aufwendig adoptieren. Auch im Alltag erleben viele subtile wie offene Anfeindungen. Eine Mutter beschrieb das so: ?In dem Moment, wo man Familie mit Kind ?ffentlicher lebt, wird man st?rker angefeindet.“ Viele berichten, dass sie immer wieder erkl?ren und die ?Normalit?t“ ihrer Familie behaupten müssen.
Warum wirken diese Ungleichheiten so tief in die Lebensrealit?t hinein?
Christine Wimbauer: Diese rechtlichen und sozialen Ungleichheiten greifen tief in die Praktiken von LGBTQ+-Familien ein. Zweimütterpaare erleben die Pflicht zur Stiefkindadoption trotz Ehe als Herabsetzung der nicht-leiblichen Mutter. In Mehrelternfamilien fehlt den sozialen Eltern fast jedes Recht, was Unsicherheiten schafft und allt?gliche Entscheidungen kompliziert macht. Und das alte Transsexuellengesetz, das jüngst vom Selbstbestimmungsgesetzt (SBGG) abgel?st wurde, vermittelte trans* Eltern (Eltern die ihren Geschlechtseintrag im Personenstand ge?ndert haben) über Jahre, dass ihre Elternschaft rechtlich nicht vorgesehen ist. Viele empfanden das als Abwertung. Ein Befragter erz?hlte, er habe sich gezwungen gefühlt, zwischen Familiengründung und der ?nderung seines Geschlechts zu entscheiden: ?Ich habe für mich überlegt: Was ist mir wichtiger? Die Entscheidung zum Kind, zur Heirat war letztendlich für mich nur unter dem Umstand m?glich, dass das andere eben nicht ging parallel.“ Sie zeigen, dass Kinderwünsche in LGBTQ+-Familien oft mit besonderen Hürden verbunden sind.
Welche Wege in die Elternschaft haben sich in Ihren Interviews als besonders typisch herausgestellt, und wie unterscheiden sich diese Erfahrungen von denen heterosexueller Paare?
Mona Motakef: LGBTQ+-Personen wurde lange abgesprochen, überhaupt Familien gründen zu k?nnen. Dies verdeutlicht Carolin Callas, die mit ihrer Partnerin ein Kind hat: ?Und wenn man als geouteter Jugendlicher offen lebt, dann sagt das keiner zu einem: ?Wenn du mal verheiratet bist, wenn du mal Kinder hast‘ – das passiert nicht. Und da entwickelt man sich automatisch hin“. Wir zeichnen daher die oft langen und steinigen Wege von LGBTQ+-Personen in die Elternschaft nach sowie die gesellschaftlichen Hürden, die sie bei ihrer Elternwerdung überwinden müssen. Erst wenn sie sich selbst als Eltern vorstellen k?nnen, k?nnen sie im zweiten Schritt darüber nachdenken und aushandeln, welche Optionen zur Familienwerdung ihnen offenstehen und welche sie nutzen wollen. Im dritten Schritt folgt dann die konkrete Umsetzung. Hierbei zeigen sich gro?e Unterschiede: Wer wie Eltern werden kann, will, soll und darf, ist je nach Zusammensetzung der werdenden Eltern rechtlich, medizinisch, biologisch und pers?nlich unterschiedlich und ?u?erst komplex.
Ein zentrales Konzept Ihrer Studie ist das ?Normalisierungshandeln“ von LGBTQ+-Familien. K?nnen Sie beschreiben, welche Strategien Familien entwickeln, um ihre ?Normalit?t‘ sichtbar zu machen?
Julia Teschlade: Einige Befragte pr?sentieren ihre Familien geradezu als ?Musterfamilien“, wie etwa Gustav Gernsheim: ?Wir sind ne Familie, wir haben alle irgendwie Arbeit. Wir wohnen zusammen. Wir ziehen unsere Kinder zusammen auf. Wir sind vollbesch?ftigt“. Neben der Betonung der eigenen ?Normalit?t“ sind weitere Strategien, wie die Familien Normalit?t herstellen (müssen), praktischer Art. Eine Befragte schildert uns etwa, wie sie ihre neuen Nachbar*innen nach ihrem Einzug mit selbstgebackenem Kuchen überraschten. Sie zogen von Tür zu Tür, damit sich niemand, so Carolin Callas ?das Maul zerrei?en muss“. Als lesbisches Paar agieren sie pr?ventiv, da sie fürchten, dass andere Menschen abf?llig über sie sprechen, weil sie nicht heterosexuell leben.
Sie stellen fest, dass die Anpassung an gesellschaftliche Familiennormen bei LGBTQ+-Familien nicht unpolitisch ist, sondern eine ?berlebensstrategie. Welche Folgen hat das für die betroffenen Familien?
Christine Wimbauer: Unsere F?lle zeigen, dass die Herstellung von Normalit?t, das doing normality, für die Familien aufwendig und auch sehr anstrengend ist. Dieser Aufwand muss als Teil der angestrebten Normalisierung zudem unsichtbar gemacht werden – die Familien leisten also doppelte Mehrarbeit. Viele Familien strengen sich besonders an, um als ?gute Familien“ zu gelten – was wir als ?Hypernormalisierung“ herausgearbeitet haben. Grund dafür ist, dass Normalisierungsarbeit eine Grundvoraussetzung dafür ist, das eigene Leben vor Angriffen, Abwertungen und Verletzungen von au?en zu schützen. Durch das Normalisierungshandeln der LGBTQ+-Familien k?nnen aber auch neue Selbstverst?ndlichkeiten an Bedeutung gewinnen und vielleicht zur neuen Normalit?t (new normal) werden.
Ihr Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem rechtliche Reformen wie das Selbstbestimmungsgesetz neue Impulse setzen, aber auch neue Ausschlüsse sichtbar werden. Welche Weichen müssten Politik und Gesellschaft jetzt stellen, damit LGBTQ+-Familien nicht l?nger um Anerkennung k?mpfen müssen, sondern selbstverst?ndlich dazugeh?ren?
Mona Motakef: Dazu braucht es ein breites Bündnis aus Recht, Politik und Zivilgesellschaft. Unerl?sslich ist die konsequente rechtliche Gleichstellung: Die Pflicht zur Stiefkindadoption muss abgeschafft, Mehrelternschaft mit mehr als zwei Personen erm?glicht und geschlechtsneutrale Elternbezeichnungen in der Geburtsurkunde eingeführt werden. Wir ben?tigen barrierearme Zug?nge zu reproduktiven Verfahren, sofern sie globale Ungerechtigkeiten nicht weiter verfestigen. Ebenso wichtig ist wirksamer Diskriminierungsschutz und der Abbau struktureller Ungleichbehandlungen, etwa im Gewaltschutz, in der Erwerbsarbeit und im Gesundheitswesen. Nicht zuletzt sollte schon Kindern und Jugendlichen vermittelt werden, dass Familie vielf?ltig ist und sich nicht allein über biologische Verwandtschaft definiert, sondern darüber, dass Menschen dauerhaft und zuverl?ssig füreinander Verantwortung übernehmen – egal, welchen Geschlechts und wie viele.
Die Fragen stellte Ljiljana Nikolic
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Der Book Launch findet am 24. November um 18 Uhr an der Juristischen Fakult?t, Bebelplatz 2, 10117 Berlin, Raum E25, statt.